Margarete Susman schrieb einst über den Expressionismus:
Solange wir nicht im Stande sind, die Welt aus ihren Angeln zu heben, den alten verrotteten Lebensformen neue reinere entgegenzusetzen, sind wir ihr verfallen. Und doch ertragen wir es nicht, sie hinzunehmen; das Rasen gegen sie erfüllt uns bis zum Zerspringen; wir wollen handeln, wirken, ändern. Was ist zu tun? Nur eines! Nur schreien können wir - schreien mit aller Kraft unserer armen, erstickten Menschenstimme - schreien, dass wir den grauenhaften Lärm des Geschehens übertönen - schreien, dass wir gehört werden von den Menschen, von Gott.
Dieser Schrei, der zum Himmel gellende Schrei, der nicht mehr wie noch der einsame Sehnsuchtsschrei Stefan Georges "durch güldne Harfe sausen" will, den keine an den Mund gesetzte Flöte mehr zum Klang verschönt, der nur gehört werden will, gehört werden soll um jeden Preis als lebendige menschliche Entscheidung - er allein ist die Antwort der wachen Seele auf die furchtbare Umklammerung der Zeit. Wo das Entsetzliche uns überwältigt, sodass wir es nicht anschauen, nicht gestaltend beherrschen, uns ihm weder hingeben noch auch entreißen können, da bleibt uns allein, uns ihm entgegenzustemmen mit aller Kraft; es bleibt uns als Tat allein die Entscheidung. Wollen wir Befreiung? Wollen wir Erneuerung? Wollen wir, dass es anders werde. Wollen wir heraus aus diesem Strudel, aus diesem grauenvollen Mischmasch von niederstem Machtwillen und verworrenem, verratenem Idealismus? Wollen wir heraus aus dieser schwersten, wehesten Verfinsterung des Geistes, die je auf Erden war? Dies ist die einzige Frage an unser Leben. Heraus, gleichviel ob in Schönheit oder Hässlichkeit, in Ehre oder Schmach, ja selbst ob in Liebe oder Hass. Nur heraus: den großen, gellenden Schrei ausstoßen, der uns auf ewig trennte von dem Wollen der dumpf hinnehmenden Menge, der jede Gemeinschaft mit den dumpf treibenden Mächten unserer Zeit verwirft. Entscheidung für oder wider - dies ist heute die einzige Frage an unser Menschentum.
Und die Entscheidung, dieser Aufschrei der sich entscheidenden Seele ist Expressionismus. Er ist die Antwort auf eine Wirklichkeit, die anzuschauen, der sich hinzugeben unmöglich geworden ist. Entscheidung lebendiger Persönlichkeiten gegen das blinde Rasen sinnfremder Gewalten, das ist die Seele des Expressionismus. Auch im scheinbar verrenktesten, verzerrtesten Bild der Welt, sofern es unsere geistige Welt nicht annimmt, sie anders will, sofern es nicht mit innerster Kraft zur Wehr setzt gegen das Überkommene, sofern es ein Aufschrei wider die zur Unmöglichkeit gewordene Welt ist, lebt etwas von der Freiheit, die unsere Zeit uns heutigen Menschen gestohlen hat für Zeit und Ewigkeit.
Denn anders als in Krämpfen kann unserer Welt die Erneuerung nicht kommen, anders können wir sie nicht herbeirufen. Die Zeiten der Stille, der Armut, der Verschlossenheit und Scham sind vorüber. Uns Seligen kommt Gott nicht im sanften Säuseln. Der Expressionismus hat eine Sendung, die nichts mehr von Schönheit weiß.
Ich habe hiernach noch keinen schöneren Schrei vernommen.
Seitdem versuchte auch ich, zu schreien. Hin und wieder. Zu zaghaft, zu leise.
Kaum gehört. Angefixt stellte ich mir vor, dass meine Seele schreit. Vorerst nur meinetwegen. Um mein
Innerstes zu füllen und meine Fassade bersten zu lassen. Um mich, dem Krach
folgend, selbst in den Trümmern zu finden. Neu zu erfinden. Um sicher zu gehen, dass sie (meine
Seele), dass ich überhaupt noch existiere; mich nicht zu verlieren. Sollte ich irgendwann verstummen und in plumper Gleichgültigkeit untergehen - meine Seele
gepeinigt - wollte ich mich in tiefe Unendlichkeit fallen lassen. Aufgebend.
Annehmend.
Jene Ausrufe, bald laut, bald leise. Bald heiser. Nach Außen
dringend, gegen die innere Leere ankämpfend. Als dünne Fäden, die mich hier halten,
sollten sie sich zu einem mächtigen Donnerschlag zusammenschließen. Zu einer
enormen Schallwelle. Mich erfüllend/brechend/ zerstörend/gebärend. Die Stimme
meiner Seele wurde dünner, zarter. Bald unhörbar. Ich selbst muss achtsam
lauschen um ihren Klang einzufangen. Ich brauche Halt. Um Luft zu holen; Kraft
zu sammeln. Balsam für meine Seele..., dass sie nie verstumme.

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